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Inklusive Arbeitswelt
Nach einer Krebserkrankung zurück an den Arbeitsplatz
Es ist ein verbreitetes Missverständnis: Berufliche Inklusion bedeutet nicht nur, Menschen mit einer Körper- oder Sinnesbehinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu beschäftigen. Sondern auch, den Arbeitsplatz von Beschäftigten zu erhalten, die wegen schwerwiegender chronischer Erkrankungen wie z. B. Krebs, Herzinfarkt oder Depression längere Zeit arbeitsunfähig oder in ihrer Leistung eingeschränkt sind.
Im Kinderheim St. Klara in Freising haben wir uns die Erfahrungen beider Seiten schildern lassen: von Carola Walter (Name geändert), die eine Brustkrebserkrankung überstanden hat, und von Führungskraft Frank Eichler, der auch Personalverantwortlicher ist.
Inhaltsverzeichnis
- Hier waren wir zu Besuch
- Die Unternehmenskultur: Grundlage erfolgreicher Inklusion
- Diagnose: Brustkrebs
- Krankgeschrieben: plötzlich und auf unbestimmte Zeit
- Fachkräftemangel: Qualifizierte Aushilfen sind schwer zu finden
- Gesund werden ohne Sorgen um den Arbeitsplatz
- Der richtige Zeitpunkt für den Wiedereinstieg
- BEM: das Betriebliche Eingliederungsmanagement
- Entscheidend: die Kommunikation mit allen Beteiligten
Hier waren wir zu Besuch
Das Gebäude des Kinderheims St. Klara in Freising bei München hat eine über 130-jährige Geschichte und beherbergte früher ein Waisenhaus. Heute betreut das Kinderheim rund 75 Kinder und Jugendliche aus Freising und der Region mit verschiedenen heilpädagogischen Hilfsangeboten.
Das Angebot umfasst eine Tagesbetreuung für Kinder und Jugendliche aus problematischen Verhältnissen. Sie leben entweder bei ihren Eltern – oder haben eine Heimat auf Zeit in den Wohngruppen gefunden, wenn das Leben zu Hause nicht mehr verantwortbar ist. Träger der Jugendhilfe Nord“ ist die Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising e. V.
Im Hauptgebäude des Kinderheims St. Klara in Freising sind verschiedene pädagogische und psychologische Betreuungsangebote der „Jugendhilfe Nord“ untergebracht.
In vier betreuten Wohngruppen des Kinderheims St. Klara leben rund 35 Kinder und Jugendliche. Zwei der Wohngruppen befinden sich in einem Neubau etwa 10 Gehminuten vom Hauptgebäude entfernt.
Die Unternehmenskultur: Grundlage erfolgreicher Inklusion
„Es ist Teil unserer Unternehmenskultur, die Herausforderung eines längeren krankheitsbedingten Arbeitsausfalls anzunehmen.“
Wer sich im Hauptgebäude des Kinderheims St. Klara umschaut, entdeckt schon im Spielzimmer ein Symbol für Inklusion: ein von Kindern selbst gebasteltes Plakat mit Umgangsregeln wie „Wir schließen niemanden aus“ und „gegenseitig helfen“. Dieses Plakat spiegelt wider: Wir sind ein Team, wir sind füreinander da, wir lassen niemanden fallen. „Diese Werte sind Basis unserer pädagogischen Arbeit, aber auch unserer Unternehmenskultur“, erklärt Frank Eichler, der Leiter der Jugendhilfe Nord, zu dem auch das Kinderheim St. Klara gehört. „Wir vermitteln diese Werte den Kindern und Jugendlichen – aber auch unseren Beschäftigten und Führungskräften. Sie sind der Grundstein dafür, wie wir Inklusion in unserem Arbeitsalltag leben.“
Im Spielzimmer der Tagesbetreuung des Kinderheims St. Klara symbolisiert auch ein Teppich: „Wir halten zusammen, wir schließen niemanden aus.“
Das Plakat mit Umgangsregeln haben Kinder der Tagesbetreuung selbst gebastelt. Die Regeln lauten z. B.: „Wir sehen die Stärken der anderen“, „gegenseitig helfen“ und „Wir schließen keine Kinder aus.“
Diagnose: Brustkrebs
Rund fünf Jahre ist die Diagnose von Carola Walter her: Brustkrebs. Das war im Dezember 2014. Wie für jede Frau war dieser Befund auch für die damals 50-jährige Psychologin zunächst ein Schock. Noch schnell vor Weihnachten wurde die OP anberaumt und mit der Bestrahlung begonnen. Neben den Sorgen um die eigene Gesundheit beschäftigten Carola Walter schnell auch andere Zukunftsgedanken: „Was bedeutet das alles für meinen Job? Wie lange werde ich ausfallen? Werden meine Kolleginnen und Kollegen wegen mir Überstunden machen müssen? Und wenn mein Chef eine Vertretung findet: Was passiert, wenn er mit ihr zufriedener ist als mit mir?“
Carola Walter ist Diplompsychologin und systemische Familientherapeutin. Seit 13 Jahren arbeitet sie im psychologischen Fachdienst am Freisinger Kinderheim St. Klara. Hier betreut sie stundenweise rund 20 Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 16 Jahren, die in den heilpädagogischen Wohngruppen des Kinderheims leben.
„Als Psychologin ist die Basis meiner Arbeit die vertrauensvolle Beziehung. Wenn ich krankheitsbedingt ausfalle, bin ich schwerer zu ersetzen.“
Krankgeschrieben: plötzlich und auf unbestimmte Zeit
„Das Wichtigste bei jeder psychologischen und pädagogischen Arbeit ist die persönliche Beziehung“, erklärt Carola Walter. Bindung und Vertrauen entwickeln sich besonders bei Kindern langfristig durch einen zuverlässigen Kontakt. Diese Rahmenbedingungen stellen bei einem längeren Krankheitsfall jeden Arbeitgeber vor besondere Herausforderungen: „Weil die persönliche Beziehung so wichtig ist, kann nicht einfach so eine andere Person die Betreuung übernehmen, auch wenn sie eine ähnliche fachliche Qualifikation mitbringt“, betont Frank Eichler, der u. a. für die Personalplanung am Kinderheim St. Klara verantwortlich ist. „Zudem schaden kurzfristige Überbrückungsszenarien jeder Bindungsarbeit, das kann man den Kindern eigentlich nicht zumuten.“
Fachkräftemangel: Befristeter Ersatz ist schwer zu finden
Zusätzlich verschärft der aktuelle Arbeitsmarkt die Situation: „Auch im psychologischen und pädagogischen Sektor herrscht in Bayern Fachkräftemangel“, erklärt Eichler. „Und es gibt keine Freiberufler, die spontan und befristet einspringen könnten – wie z. B. in der IT oder im Ingenieurwesen.“ Die bestmögliche Lösung für alle zu finden – für die Kinder, das Kollegium, die erkrankte Person und den Arbeitgeber – das ist für jeden Personalverantwortlichen keine leichte Aufgabe. Erst recht, wenn der Arbeitsausfall plötzlich eintritt und die Dauer schwer abzuschätzen ist – wie meistens bei schweren Erkrankungen.
Gesund werden ohne Sorge um den Arbeitsplatz
Nach sieben Monaten kehrte Carola Walter an ihren Arbeitsplatz am Kinderheim St. Klara zurück. Seitdem arbeitet sie dort wieder therapeutisch mit Kindern und Jugendlichen.
Carola Walters wichtigster Rat an andere Krebserkrankte: ‚Nimm dir die Zeit, die du für deine Genesung und Erholung brauchst und fange nicht überstürzt wieder an zu arbeiten – um dann gleich wieder auszufallen. Die körperlichen und psychischen Belastungen einer Krebstherapie sollte niemand unterschätzen.“
„Das Signal meines Chefs ,Wir regeln das hier, nimm dir die Zeit, die du brauchst‘ – das war eine große Entlastung.“
In der Situation von Carola Walter half der Zufall, da zum Zeitpunkt ihrer Diagnose gerade der Bewerbungsprozess für eine weitere psychologische Stelle am Kinderheim St. Klara lief. Die Kandidatin an Position 2 war bereit, Walters Aufgaben ab sofort und befristet für sechs Monate zu übernehmen. Für diesen Zeitraum hatte sich Carola Walter nach Rücksprache mit ihren Ärzten schon zu Therapiebeginn krankschreiben lassen: „So konnte mein Chef besser planen, als wenn ich mein Fehlen immer wieder von Monat zu Monat verlängert hätte. Und ich habe mich selbst weniger unter Druck gesetzt, schnellstmöglich wieder leistungsfähig werden zu müssen.“ Denn wie stark und lange eine Krebstherapie die Betroffenen schwächt, ist sehr individuell und kaum planbar.
Der richtige Zeitpunkt für den Wiedereinstieg
Carola Walter hatte über die Jahre bereits bei Kolleginnen und Kollegen miterlebt, wie teamorientiert und fair ihr Arbeitgeber mit längeren Krankheitsausfällen umgegangen war. „Deshalb hatte ich auch keine Angst, meinen Arbeitsplatz zu verlieren oder im Nachhinein wegen verringerter Belastbarkeit hinausgemobbt zu werden“, erzählt die heute 55-Jährige. „Ich weiß aber von anderen Krebserkrankten, dass das eine sehr verbreitete und manchmal leider auch begründete Sorge ist.“
Insgesamt war Carola Walter sieben Monate durchgehend krankgeschrieben. Nach der Reha brauchte sie noch einen Monat, um die Konfrontation mit der lebensbedrohlichen Erkrankung auch psychisch zu verarbeiten. „Viele Betroffene unterschätzen die emotionalen Belastungen solch einer Lebensphase“, sagt Carola Walter. „Für mich war aber immer klar: Wenn ich zurückkomme, will ich körperlich und psychisch wieder fast genauso belastbar sein wie vor der Diagnose. Ich wollte nicht wiedereinstiegen und dann behandelt werden wie ein rohes Ei – oder gleich wieder eine Pause brauchen.“
BEM: das Betriebliche Eingliederungsmanagement
Und so gelang Carola Walter der Wiedereinstieg dann auch ziemlich reibungslos. Die meisten Krebspatientinnen und Krebspatienten kehren nach der Therapie und Reha im Rahmen eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) in den Job zurück. Das heißt: zunächst wenige Stunden pro Tag und Woche, mit langsamer Steigerung. In der Regel werden dann mittelfristig Teilzeitmodelle gefunden, anstatt schnellstmöglich wieder Vollzeit zu arbeiten. „Weil ich schon vor der Krebserkrankung in Teilzeit beschäftigt war, musste ich keine Stunden reduzieren und konnte direkt auf meine vorherige Stelle zurückkehren, ohne mich überlastet zu fühlen“, erzählt Carola Walter.
„Schwerbehindert? Das klingt ja als könnte ich nichts mehr ohne Hilfe!“ Das Stichwort „Schwerbehindertenausweis“ klingt für viele Krebskranke zunächst unpassend und diskriminierend. Tatsächlich ist der Status aber mit vielen finanziellen Hilfsleistungen verbunden – und er erhöht den Kündigungsschutz.
Frank Eichler kennt die genauen Zahlen: „Insgesamt haben in allen Einrichtungen der Jugendhilfe Nord derzeit von 165 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern neun einen Schwerbehindertenausweis. Fast alle aufgrund von chronischen Erkrankungen.“
Entscheidend: die Kommunikation mit allen Beteiligten
Frank Eichler arbeitet seit 1994 für die Katholische Jugendfürsorge der Erzdiözese München und Freising e. V. und hat miterlebt, wie sich sein Arbeitgeber in den letzten Jahren „fit gemacht hat in Sachen Inklusion.“ „Mittlerweile sind das Betriebliche Eingliederungsmanagement, ein Schwerbehindertenbeauftragter und eine Inklusionsbeauftragte fester Bestandteil aller Einrichtungen.“ Zudem waren Fachleute des Integrationsfachdienstes vor Ort, um Führungskräfte über Unterstützungsangebote zu informieren. Persönlich findet Eichler einen weiteren Baustein entscheidend für gelingende Inklusion: die Kommunikation.
„Im Sinne einer inklusiven Unternehmenskultur muss man die Herausforderungen einer schweren Erkrankung im Kollegium annehmen und offen mit allen Beteiligten über mögliche Lösungen sprechen“, findet Eichler. „Das heißt: offene Gespräche mit der erkrankten Person ebenso wie mit den gesunden Kollegen, die eventuell mit Mehrarbeit konfrontiert werden.“ Wie man als Unternehmen mit einer solchen Situation umgeht, sei in Zeiten von Fachkräftemangel schließlich auch ein Aushängeschild, nach innen und nach außen. „Wenn ein Arbeitgeber signalisiert: ‚Wir kümmern uns um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch in Ausnahmesituationen‘ – dann entsteht auch auf der Seite der Angestellten mehr Einsatzbereitschaft und Loyalität.“ Carola Walter sieht das ähnlich. „Ich bin sehr gerne wieder auf meine Stelle zurückgekommen. Und es ist schön zu sehen: Wir sind immer noch alle ein Team.“