Hauptinhalt
Inklusive Arbeitswelt
Menschen mit Fähigkeiten
Das englische Wort „Disability“ bedeutet auf Deutsch Behinderung – aber auch Unfähigkeit und Unvermögen. Bei Siemens spricht man nicht von „Disability“, sondern von „Ability“, von den Fähigkeiten von Menschen. Die schaut man sich im Unternehmen sehr genau an. Und wenn schließlich klar ist, wo ein Mensch seine Talente, sein Können und sein Wissen am besten einsetzen kann – dann und erst dann fragt man nach, welche Unterstützung er möglicherweise braucht, um bei Siemens zu arbeiten. Marina Zdravkovic arbeitet seit 23 Jahren bei Siemens, Leon Baumgärtner seit drei Wochen. Beide haben eine Behinderung – und in Siemens einen Arbeitgeber gefunden, der sie gleichermaßen wertschätzt und fördert. Für sein Engagement wurde Siemens im Oktober 2017 mit dem Emblem „Inklusion in Bayern– Wir arbeiten miteinander“ ausgezeichnet.
Über Marina Zdravkovic
Marina Zdravkovic hat 1997 bei Siemens ihre Ausbildung zur Fachberaterin für betriebswirtschaftliche Organisation abgeschlossen. In den folgenden Jahren arbeitete sie u. a. im technischen Consulting, in der Personalabteilung und im Ideenmanagement des Unternehmens. Seit 2015 ist sie Mitglied der Gesamtschwerbehindertenvertretung (GSBV) der Siemens AG. Wegen einer Muskelerkrankung nutzt Marina Zdravkovic einen Rollstuhl.
Meine Meinung
„Inklusiv denken heißt für mich: erst einmal gucken, was ein Mensch kann – und nicht, was er nicht kann!“
Über Leon Baumgärtner
Leon Baumgärtner hat im September 2017 bei Siemens in München eine Ausbildung zum Elektroniker für Automatisierungstechnik begonnen.
Meine Meinung
„Ich finde es gut, wenn Menschen mit und ohne Behinderung zusammenkommen, sich austauschen, Freundschaften schließen.“
Ein Beruf mit Perspektive. Und mit Freude!
Als andere Kinder sich hochzogen und die ersten Schritte machten, da krabbelte die einjährige Marina noch. Mit 16 Monaten begann sie zu laufen. Die Eltern waren erleichtert. Doch Marinas Gang wirkte watschelig, sie fiel wieder und wieder auf die Nase und hatte Mühe, wieder aufzustehen. Die Eltern gingen zum Arzt und für Marina Zdravkovic begann, was sie heute einen Spießrutenlauf nennt. Untersuchungen, Diagnosen, neue Untersuchungen, neue Diagnosen. Eine Gewebeentnahme zeigte schließlich: Marina Zdravkovic hat eine degenerative Muskelerkrankung. Degenerativ bedeutet, dass der Zustand der Muskeln sich mit der Zeit verschlechtert, ihre Kraft nachlässt. Eine gute Nachricht bekam Marina Zdravkovic erst viele Jahre später, als sie an einer Forschungsstudie teilnahm. Die Krankheit betrifft vermutlich „nur“ die Muskeln, die mit dem Skelett verbunden sind, nicht die inneren Organe, also z. B. das Atmungssystem. „Ich bin ein positiver Mensch“, sagt Marina Zdravkovic. Und: „Ich habe immer alles geschafft, solange es körperlich noch ging.“
Die Eltern förderten Marina Zdravkovic mit unerbittlicher Liebe. Sie fuhren sie zur Physiotherapie und übten mit ihr zu Hause, Tag für Tag. „Oft habe ich es gehasst, aber die Übungen helfen mir bis heute, meine Muskulatur zu stabilisieren.“ Ihr Vater, ein Schreiner, baute eine Kletterwand und ein Wackelbrett ins Wohnzimmer. Werktags war er auf Montage, am Wochenende übte er mit seiner Tochter und brachte ihr das Fahrradfahren bei. Marina Zdravkovics Mutter gab ihren Beruf auf, um ihre Tochter zu unterstützen und zu fördern.
Marina Zdravkovic besuchte immer Regelschulen, war dort immer das einzige Kind mit Behinderung: Barrierefreiheit war noch kein Thema. Irgendwie schaffte sie es die Treppen hinauf und hinab und durch die langen Schulflure. Nach Abschluss der Realschule machte sie ein Praktikum in einer Sparkasse. Dabei wurde ihr klar, was sie schon geahnt hatte: „Der Umgang mit Geld hat mich nicht interessiert.“ Sie träumte davon, als Ägyptologin alte Hochkulturen zu erforschen. „Aber schon mit 14, 15 habe ich gewusst, was ich körperlich kann. Deshalb habe ich mich für eine Laufbahn entschieden, die mir Freude macht und auf der ich auch weiterkomme, wenn meine Muskelkraft weiter nachlässt.“ Marina Zdravkovic wechselte aufs Wirtschaftsgymnasium; da fiel ihr das Gehen schon schwerer. Mitschüler trugen ihre Tasche; außerdem durfte sie ein paar Minuten später in den Unterricht kommen. So schaffte Marina Zdravkovic auch den Weg zum Abitur, solange es noch ging. „Zwei Jahre später wäre das in diesem Schulgebäude nicht mehr möglich gewesen.“
Traust du dir das zu? – Ja
Ganz bewusst entschied sich Marina Zdravkovic gegen ein Studium. „Was wäre gewesen, wenn sich am Ende des Studiums mein Zustand verschlechtern würde? Dann hätte ich einen Abschluss gehabt, aber keine praktische Erfahrung – und keine Chance auf einen Job, dachte ich.“ Nach dem Abitur fasste sie deshalb eine Berufsausbildung ins Auge. Sie wollte im Vertrieb arbeiten, gerne mit osteuropäischen Handelspartnern, schließlich hat sie Familienwurzeln in Serbien. Sie informierte sich beim Arbeitsamt, stöberte in Zeitungen und fand schließlich eine Stellenanzeige von Siemens; das Unternehmen bot eine Ausbildung zur Fachberatung für betriebswirtschaftliche Organisation an.
Ihr Vater fuhr sie zum Vorstellungsgespräch von Tauberbischofsheim nach Nürnberg. Als sie auf den Firmeneingang zugingen, kam ihnen ein Rollstuhlfahrer entgegen. Ein gutes Zeichen, fand Marina Zdravkovic. Sie überstand einen Tag im Assessment-Center und ein Vier-Augen-Gespräch. Die Interviewerin fragte klipp und klar, ob Zdravkovic sich die Ausbildung zutraue. Und Zdravkovic antwortete kurz und bündig: ja.
„Den ganzen nächsten Tag stand ich quasi neben dem Telefon.“ Als es endlich klingelte, hatte die Personalerin eine gute und eine schlechte Nachricht. Marina Zdravkovic sollte einen Ausbildungsplatz bekommen – aber nicht in Nürnberg, sondern in München. Und der theoretische Unterricht sollte in Paderborn stattfinden, 600 Kilometer von München entfernt. Marina Zdravkovic war begeistert, doch ihre Eltern winkten ab: So weit von zu Hause entfernt? Alleine? Mit Behinderung? Endlose Diskussionen hielten die Familie in Atem. „Schließlich haben meine Eltern mich zu unserem Hausarzt geschleppt, einem älteren Herren. Er hat sich beide Seiten angehört. Ich habe ihm all die tollen Möglichkeiten der Ausbildung geschildert. Er hat mich nur gefragt: Traust du dir das zu?“ Und Marina Zdravkovic sagte wieder: ja.
„Traust du dir das zu?“ ist eine häufige Frage in meinem Leben.
Bald darauf zog sie in ein Mädchenwohnheim in einem Münchner Frauenkloster, zwischendurch immer wieder für mehrere Wochen nach Paderborn und, für ein Praktikum, sogar nach Moskau. „Einigermaßen barrierefrei“ reichte Zdravkovic damals noch. „Einigermaßen“, das bedeutete für sie: kurze Wege, wenige Stufen. Fürs Badezimmer reichte die Standard-Ausführung. Beim Azubi-Ausflug auf die Wewelsburg bei Paderborn trugen ihre Mitschüler sie abwechselnd nach oben.
Marina Zdravkovic schloss ihre Ausbildung ab, bewarb sich intern bei Siemens und bekam ihren ersten Job. Das ist zwanzig Jahre her. „Ich habe mich seither nicht so sehr nach oben entwickelt. Dafür habe ich mich bewusst entschieden. Ich wollte nicht unbedingt `Chefin´ sein, sondern etwas tun, das mir Spaß macht.“ Marina Zdravkovic arbeitete im technischen Consulting für Controlling-/Reportingdaten, in der Personalabteilung und im Ideenmanagement von Siemens. Auch an einem Projekt zur Vorbereitung der Siemens-internen IT auf die Jahrtausendwende war sie beteiligt.
Eines Tages knickte Marina Zdravkovic um und brach sich ein Sprunggelenk. „Operation, Reha – ich war von heute auf morgen weg, monatelang.“ Sie kam wieder auf die Beine, lernte das Laufen neu. Für längere Wege bekam sie ihren ersten Rollstuhl. Den erkannte sie als echte Bereicherung. Schon vor ihrem Unfall hatte sie an Stadtbummeln und Shoppingtouren längst keine Freude mehr; der Rollstuhl gab ihr Beweglichkeit zurück. Ihren Arbeitsplatz hatte Siemens für sie freigehalten. Marina Zdravkovic kehrte in ihren Job zurück. Das Unternehmen organisierte für sie eine Wiedereingliederung.
Engagiert für Beschäftigte mit Behinderung
Doch während ihrer langen Reha-Zeit hatte sie beschlossen, die Weichen neu zu stellen. Marina Zdravkovic übernahm eine andere Aufgabe im Unternehmen – und einen Platz in der Schwerbehindertenvertretung (SBV). Neben ihrem Vollzeitjob arbeitete sie sich nun in Fragen der Inklusion und der Barrierefreiheit ein. 2015 entschied sie sich für die Kandidatur für die Gesamtschwerbehindertenvertretung (GSBV). „Bei unserer Schwerbehindertenjahresversammlung in Bamberg mussten wir uns alle auf der Bühne vorstellen. Ich war die einzige Kandidatin mit einer sichtbaren Behinderung. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, fragte mich jemand aus dem Publikum, ob ich mir das Amt zutrauen würde.“ Da war sie wieder, die Frage, die Marina Zdravkovic schon ein halbes Leben lang begleitete. Und wie immer sagte sie: „Ja.“ Prompt wurde sie in die GSBV gewählt.
Marina Zdravkovics Rollstuhl ist vergleichbar mit einem E-Bike. Sie treibt ihn mit den Armen an. In die Hinterräder ist ein Zusatzantrieb eingebaut, der ihre eigene Kraft verstärkt.
Von Industrie 4.0 bis zur Barrierefreiheit
Heute ist Marina Zdravkovic von ihrer bisherigen Tätigkeit freigestellt und engagiert sich voll und ganz in der GSBV. Gemeinsam mit Gerlinde Aumiller, der langjährigen Vorsitzenden der GSBV, und ihren Kolleginnen und Kollegen vertritt sie die Interessen von rund 5.000 Beschäftigten mit Schwerbehinderung bei der Siemens AG, allein 330 am Standort München-Perlach. Zu den Schwerpunkten der Gesamt-SBV gehört zurzeit das Thema Industrie 4.0: Was bedeutet die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung für die Arbeitsplätze von Menschen mit Behinderung – sowohl in der Fertigung wie im Büroumfeld? Wie kann man vermeiden, dass ein Beschäftigter eine geringer qualifizierte Tätigkeit ausüben muss, wenn seine Aufgabe ein Computer oder Roboter übernimmt? Weiterbildung sei ein hochaktuelles Thema, sagt Marina Zdravkovic. „Wir bemühen uns um die Qualifizierung für gleichwertige Tätigkeiten oder den nächsten Karriereschritt nach oben.“
Unabhängig und würdevoll
Ein weiteres Top-Thema ist die Barrierefreiheit. Beim Abbau von Barrieren gibt es schon viele Erfolge. Barrierefreie Zugangswege, schwellenlose Ein- und Übergänge, automatisch öffnende Türen, Aufzüge: Bei Siemens kommt man zügig voran. Wichtig sind Marina Zdravkovic Details, die nicht auf den ersten Blick auffallen. Ein Ruheraum zum Beispiel, den Menschen mit Behinderung genauso nutzen können wie schwangere Kolleginnen. Eine Behindertentoilette, auch in Gebäuden, in denen keine Beschäftigten mit Rollstuhl arbeiten. „Auch Menschen mit chronischen Magen-Darm-Erkrankungen oder einem Stoma, einem künstlichen Darmausgang, sind sehr froh, wenn sie die Privatsphäre einer Behindertentoilette genießen können.“ Die Behindertentoilette ganz in der Nähe von Zdravkovics Büro hat ein besonderes Extra: Die Toilettenschüssel ist automatisch höhenverstellbar. Ein technisches Detail, das manche Menschen mit Behinderung unabhängig macht von der Hilfe anderer – und z. B. kleinwüchsigen Menschen würdelose Klettermanöver erspart.
Spezielle Computersoftware, hilfereiche Apps fürs Smartphone, rückenfreundliche Stühle, besonders handliche Tastaturen oder Tablets – was Beschäftigte über die bauliche Ausstattung hinaus brauchen, wird im Einzelfall besprochen. Längere Zeit einen Telefonhörer zu halten, wäre für Marina Zdravkovic eine Belastung. Deshalb telefoniert sie längst schon mit Voice-over-IP-Technik und einem Headset. Hörbehinderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden bei Bedarf von Gebärdensprach- und Schriftdolmetschenden unterstützt.
Wiedereingliederung – und jemand zum Reden
Ein betriebliches Eingliederungsmanagement, von dem auch Marina Zdravkovic profitierte, gibt es bei Siemens seit 2009. Es geht weit darüber hinaus, Beschäftigte nach längerer Krankheit stufenweise wieder ins Arbeitsleben einzugliedern. „Wenn ein Beschäftigter seine alte Tätigkeit nicht wieder aufnehmen kann, werden andere Perspektiven entwickelt, andere Arbeitspakete geschnürt“, schildert Zdravkovic. „Vielleicht ist ein Umstieg vom Außen- in den Innendienst möglich. Oder ein Telearbeitsplatz zu Hause. Vielleicht möchte ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung nicht mehr so viel Verantwortung auf seine Schultern laden. Auch eine Schnupper-Teilzeit ist eine Möglichkeit. Wenn wir selbst keine optimale Lösung finden, können wir das Inklusionsamt einschalten. Der Berater vom Inklusionsamt erstellt ein Gesamtbild und zeigt Möglichkeiten auf.“
Nicht nur Menschen, die im Laufe ihres (Arbeits-)Lebens eine Behinderung erwerben, sind dankbar für Beratung und tatkräftige Unterstützung. „Viele Beschäftigte sind erleichtert, wenn sie merken, dass wir helfen können und uns kümmern – z. B. auch bei der Kommunikation mit den Ämtern und bei den nötigen Formularen. Sie erleben, dass sie bei uns jemanden zum Reden finden.“
Erster hörgeschädigter Technik-Azubi am Standort München-Perlach
Auch die Ausbildung hat die Schwerbehindertenvertretung im Blick. Mindestens 25 Jugendlichen mit Behinderung will die Siemens AG jedes Jahr einen Ausbildungsplatz anbieten. Im Ausbildungsjahr 2017/18 waren es 34. Leon Baumgärtner ist einer von ihnen.
Als Leon Baumgärtner acht Wochen alt war, wurde seine Hörbehinderung festgestellt. Zunächst trug er Hörgeräte; als er zehn Jahre alt war, bekam er ein Cochlea-Implantat. Leon Baumgärtner kann hören, von den Lippen ablesen und gebärden. Er fährt Ski und Rad und hat einen Verein für gehörlose Radsportler gegründet: Sign-Mountainbike. Beim Biken hat er viele gehörlose Freunde gefunden; eine tiefe Freundschaft verbindet ihn auch mit einem hörenden Biker. „Wir haben viel Spaß miteinander und wir unterstützen uns gegenseitig“, sagt Leon Baumgärtner. „Mein Kumpel springt zum Beispiel ein, wenn ich telefonisch Termine vereinbaren muss. Ich hole dafür seine Kinder von der Kita ab, wenn er sich mal verspätet. Man kennt mich dort schon.“
Selbstständig zu sein, Verantwortung zu übernehmen: Das hat Leon Baumgärtner früh gelernt. Als er 14 Jahre alt war, zog er von Bamberg nach München. An einer Förderschule für hörgeschädigte Jugendliche machte er den Realschulabschluss. Anschließend, da war er sicher, wollte er im Handwerk arbeiten. Er hatte schon immer gerne an seinen Mountainbikes geschraubt. „Aber mein Hobby zum Beruf machen und Fahrradmechaniker werden – das wollte ich nicht.“ Auch Elektroarbeiten machten ihm Spaß. Für die Weihnachtskrippe baute er eine batteriebetriebene Lichtschaltung, Elektrogeräte brachte er mit dem Löteisen wieder zum Laufen ... Leon Baumgärtner machte sich im Internet schlau und schließlich bekam seine Idee einen Namen: Elektroniker für Automatisierungstechnik!
Ein Bekannter, der bei Siemens in Erlangen arbeitete, und Gespräche mit seinen Eltern brachten Leon Baumgärtner auf die Idee, sich bei dem Unternehmen zu bewerben. Gute Idee, fand er, aber: Er wollte auf jeden Fall in München bleiben, wo seine Freunde leben und die Skipisten und Mountainbike-Trails nur eine Zugstunde entfernt locken.
Leon Baumgärtner ging mit seinem Vater zum Arbeitsamt, schrieb seine Bewerbung, erkundigte sich, welche Berufsschule er besuchen könnte. Schließlich wurde er zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Neben den Vorgesetzten der Fachabteilung nahm auch Marina Zdravkovic als Vertreterin der GSBV teil. Vor dem Gespräch hatten alle Beteiligten Premieren-Lampenfieber. Klar, Siemens hatte schon viele Jugendliche mit Behinderung ausgebildet. Doch Leon Baumgärtner wäre am Standort München-Perlach der erste Azubi mit einer Hörbehinderung in einem technischen Beruf. Er müsste auch bei Kunden von Siemens und auf Baustellen arbeiten: Wie würde das mit der Kommunikation klappen – und mit der Sicherheit? Alle Fragen und Bedenken kamen auf den Tisch und wurden nacheinander geklärt. Leon Baumgärtner ist in einer Industriehalle unterwegs und hört den Gabelstapler nicht, der von hinten naht? Kein Problem, er muss wie alle anderen Beschäftigten die markierten Wege für Fußgänger und Fahrzeuge beachten. Den regelmäßigen Blick über die Schulter ist er aus dem Straßenverkehr gewohnt, als Fußgänger, Radler, Autofahrer.
Gegen mulmige Gefühle hilft der Praxis-Check
Noch immer gab es mulmige Gefühle. Also einigte man sich auf ein einwöchiges Praktikum. Leon Baumgärtner besuchte die Siemens-interne Berufsschule und arbeitete zwei Tage bei einem großen Kunden mit. Danach stand für die Verantwortlichen fest: Leon Baumgärtner kann es schaffen. Um ihn zu unterstützen, entschied man, dass er während seiner Ausbildung bei dem Kunden eingesetzt werden sollte, den er schon während des Praktikums kennengelernt hatte. Genügend spannende Aufgaben gibt es dort allemal; Siemens wartet ca. 2.000 Anlagen des Turbinenherstellers.
Wie lief der Start in die Ausbildung? Wie kommt Leon Baumgärtner mit den Kolleginnen und Kollegen klar?
Marina Zdravkovic fragt nach – und ist Ansprechpartnerin, wenn Beschäftigte mit Behinderung Fragen oder Probleme haben.
Drei Wochen nach seinem Ausbildungsstart hat Leon Baumgärtner schon Fuß gefasst. „Ich habe einen guten Kontakt zu meinen Kollegen.“ Er hat Stromschaltungen nach Plan gebaut und in der Berufsschule sein Wissen über das Ohm’sche Gesetz aufgefrischt.
Die praktische Arbeit fällt ihm leichter. In der Realschule war er einer unter vielen hörgeschädigten Jugendlichen; meist wurde gebärdet. Nun ist er an der Berufsschule allein unter Hörenden, muss sich mehrere Unterrichtsstunden lang auf die Lehrkräfte und die Leinwand konzentrieren, sehr genau hinhören, lippenlesen, sprechen. Die erste Woche war besonders hart: Ein Vortrag folgte dem anderen, von der Arbeitsplatzsicherheit bis zur Urlaubsregelung. Künftig bekommt Leon Baumgärtner Unterstützung: Schriftdolmetschende werden während des theoretischen Unterrichts online zugeschaltet. Die Lehrkräfte tragen ein Mikrofon. Alles, was sie sagen, tippt die Dolmetscherin oder der Dolmetscher blitzschnell in die Tastatur; der Text erscheint fast in Echtzeit auf Leon Baumgärtners Notebook.
Doch schon jetzt hat Leon Baumgärtner das Gefühl, dazuzugehören. „Am Anfang war es ungewöhnlich für die anderen. Ich habe den ersten Schritt gemacht. Ich habe mich vorgestellt und auch erklärt, wie ich kommuniziere. So sind wir ins Gespräch gekommen. Meine Mitschüler haben nach meinen Erfahrungen gefragt und wollten einige Gebärden kennenlernen. Man kann sagen, wir respektieren uns gegenseitig. Meine Mitschüler kommen auf mich zu; wir wollen auch mal privat etwas miteinander unternehmen.“ Wenn alles gut klappt mit der Ausbildung, könnte sich Leon Baumgärtner auch den nächsten Sprung vorstellen, z. B. ein Ingenieursstudium an der Uni.
Doch zunächst mal ist Leon Baumgärtner froh über seinen Ausbildungsplatz. Und bei Siemens ist man froh, ihn im Team zu haben. Selbstverständlich war das nicht. Leon Baumgärtner hatte noch eine zweite Zusage in der Tasche, von einem Unternehmen in Nürnberg.