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Inklusive Arbeitswelt

Er muss doch nicht tanzen bei uns!

Die meisten Behinderungen sind nicht angeboren, sondern erworben – z. B. durch einen Unfall. Ein einziger Moment kann dann ein ganzes Leben verändern. Vertraute Routen enden plötzlich vor Barrieren. Ganz konkret, weil man vielleicht keine Treppen mehr steigen kann. Oder im übertragenen Sinn: Weil ein Arbeitgeber einem Menschen mit Behinderung den Wunschjob nicht zutraut. Matthias Neubauer fand nach einem Unfall in sein altes Leben zurück. Auch Ronald Behrend ist schwer verunglückt; er hat danach ganz neue Wege eingeschlagen. Beide arbeiten heute im oberpfälzischen Weiherhammer – beim Maschinen- und Anlagenbauer BHS Corrugated bzw. einem angeschlossenen Bildungszentrum.

Matthias Neubauer fährt im Rollstuhl durch eine Industriehalle.

Hier waren wir zu Besuch

Außenaufnahme: ein modernes, oval geschwungenes Firmengebäude.

BHS Corrugated ist der weltweit größte Anbieter von Produkt- und Servicelösungen für die Wellpappen-Industrie. Im neuen Lifecycle Building in Weiherhammer sind die Verwaltung und ein Teil der Produktion untergebracht.

BHS Corrugated produziert Anlagen und Maschinen für die Herstellung von Wellpappe. Sitz des Unternehmens ist Weiherhammer (Oberpfalz). Mit 1.900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist BHS Corrugated in mehr als 20 Ländern aktiv – und mit einem Marktanteil von rund 50 Prozent Weltmarktführer. Das Überbetriebliche Bildungszentrum in Ostbayern (ÜBZO) bietet, ebenfalls am Standort Weiherhammer, Fort- und Weiterbildungen an. Azubis und Fachkräfte werden hier fitgemacht für das digitale Zeitalter in der Industrie. Das ÜBZO-Kompetenzzentrum für Produktionstechnologie verzahnt die berufliche und akademische Ausbildung und verbreitet Fachwissen vor Ort und online. Entstanden ist das ÜBZO als Tochter von BHS Corrugated. Inzwischen gehört das Bildungszentrum zur Lars und Christian Engel (LUCE) Stiftung. Die beiden Brüder sind – gemeinsam mit Norbert Städele – Geschäftsführer von BHS Corrugated.

Unsere Gesprächspartner

Porträtfoto: Ronald Behrend.

Ronald Behrend leitet im Überbetrieblichen Bildungszentrum in Ostbayern (ÜBZO) die Abteilung für Arbeitsmarktmaßnahmen. Bei einem Motorradunfall verlor Behrend ein Bein; ein Arm blieb gelähmt. Wie lief seine Karriere weiter, was rät er anderen Betroffenen? Direkt zur Story von Ronald Behrend

Porträtfoto: Matthias Neubauer.

Matthias Neubauer arbeitet als Marketing-Assistent beim Maschinen- und Anlagenbauer BHS Corrugated. Seit einem Fahrradunfall ist Neubauer querschnittgelähmt. Wie hat er seinen Alltag zurückerobert? Direkt zur Story von Matthias Neubauer

Porträtfoto: Lars Engel.

Lars Engel ist in der Geschäftsführung von BHS Corrugated u.a. verantwortlich für alle Kundenbelange. Außerdem sitzt er u. a. im Aufsichtsrat der Lars und Christian Engel Stiftung. Was denkt er über Inklusion, was empfiehlt er anderen Arbeitgebern? Direkt zum Gespräch mit Lars Engel

Porträtfoto: Harald Hiller.

Harald Hiller leitet den Fachbereich Personalmanagement bei BHS Corrugated. Das Unternehmen beschäftigt am Hauptstandort Weiherhammer rund 1.000 Menschen; die meisten arbeiten im technischen Bereich. Was hat Inklusion mit Fachkräftemangel zu tun? Direkt zum Gespräch mit Harald Hiller

 

Zurück in den Alltag: Matthias Neubauer

März 2013. Matthias Neubauer ist 22, steckt mitten in der Ausbildung zum Industriekaufmann; parallel bereitet er sich auf die Prüfung zum Fremdsprachenkorrespondenten vor. Er ist sportlich und unternehmungslustig, nach langen Tagen am Schreibtisch trifft er seine Freunde auf dem Fußballplatz oder steigt aufs Mountainbike. Bis zu dem Tag, als er im extremen Gelände bei einem Sprung stürzt, sich mit dem Rad überschlägt und auf den Rücken prallt. Er ist bei Bewusstsein, als ein Rettungsteam ihn auf einer Liege zum Hubschrauber schiebt. Mehrere Rückenwirbel sind gebrochen, das Rückenmark zwischen dem 5. und 6. Brustwirbel durchtrennt. Nach zwei Operationen steht fest: Matthias Neubauer ist querschnittgelähmt.

Aha!

Die meisten Behinderungen sind nicht angeboren, sondern im Laufe des Lebens erworben, z. B. durch einen Unfall oder eine Krankheit. Das zeigt ein Blick in die Statistik:

  • Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland: 7.615.560
  • Anteil der Menschen mit angeborener Behinderung: 290.248

Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistik der schwerbehinderten Menschen, Kurzbericht 2015

Porträtfoto: Matthias Neubauer in einem Besprechungsraum.

Fünf Jahre nach dem Unfall, der seinen Alltag veränderte – aber nicht seine Lebenspläne: Matthias Neubauer im Gespräch mit „Inklusion in Bayern“.

Auf der Intensivstation, über ungezählte Schläuche und Kabel versorgt und überwacht, liegt er nachts hellwach im Bett und erlebt wie in einer Dauerschleife seinen Sturz. Ein paar Tage nach dem Unfall stehen plötzlich seine Freunde an seinem Bett. Eigentlich dürfen nur enge Angehörige die Intensivstation betreten, doch die Pflegekräfte haben alle Augen zugedrückt. Die Freunde fremdeln nicht, als sie den schwerverletzten Kumpel sehen, sondern kommen gleich aufs Wesentliche: das Champions-League-Spiel am Abend, FC Bayern gegen Juventus Turin. Und dann verlässt einer das Zimmer, kehrt mit einer Schwester zurück und beide schieben ein riesiges Fernsehgerät durch die Tür. „Ich hatte natürlich immer wieder Tiefpunkte“, sagt Matthias Neubauer heute. „Du bist ja am Anfang gewissermaßen wie ein Baby. Du wirst zur Toilette gebracht, gewaschen, angezogen. Du musst sehr vieles von Grund auf neu lernen. Aber meine Familie und meine Freunde haben mir nicht die Chance gegeben, in Verzweiflung zu versinken.“

Härtetest: Heavy Metal

Eine von Neubauers ersten Fragen nach dem Unfall: Kann ich im Juni auf ein Open-Air-Konzert gehen? Die britischen Heavy-Metal-Urgesteine von Iron Maiden sollten in der Nähe von Konstanz auftreten, seine Lieblingsband; Neubauer hatte schon längst Karten gekauft. In drei Monaten? Die Ärzte schütteln den Kopf: keine Chance.

Meine Familie und meine Freunde haben mir nicht die Chance gegeben, in Verzweiflung zu versinken.

Matthias Neubauer mag Herausforderungen. Drei Monate nach dem Unfall – inzwischen trainiert er in einer Rehaklinik seinen verletzten Körper und den Rollstuhl-Alltag – fährt er mit seiner Freundin zum Konzert von Iron Maiden an den Bodensee. Hunderte Kilometer in einem uralten VW-Bus bis ins Städtchen Aach bei Konstanz. Dann: Heavy Metal auf einer schlammigen, regensatten Wiese, Pyrotechnik, 23.000 Fans grölen „Fear of the Dark“, ganz normale Ekstase. Eine kurze Nacht in einer Pension, am nächsten Morgen zurück in die Klinik. „Mein Rollstuhl war danach drei Tage in der Waschanlage.“ Und Neubauer weiß: Jetzt komme ich auch zu Hause klar.    

Einen Monat später ist es so weit. Seine Eltern haben den Zugang zu ihrem Haus rollstuhlgerecht mit einem Plattformlift erschlossen und das Erdgeschoss für ihren Sohn barrierefrei gestaltet; sie selbst sind ins obere Stockwerk gezogen. „Ich hatte mir von Anfang an gewünscht, mein Leben so normal wie möglich weiterzuführen.“ Matthias Neubauer kehrt in den Chor zurück, in dem er seit seiner Teeniezeit singt, kauft sich ein Handbike – erst eines für die Straße, später ein geländegängiges Mountainbike mit Handantrieb – und beginnt, Rollstuhl-Basketball zu spielen. Kurz nach seiner Entlassung aus der Rehaklinik besteht er die Prüfung in Fremdsprachenkorrespondenz, im Jahr darauf beendet er erfolgreich seine Ausbildung zum Industriekaufmann. Und dann bekommt er die Chance, sich bei BHS Corrugated in Weiherhammer vorzustellen.

Barrierefrei? Was bedeutet das genau? In welchen Lebensbereichen spielt Barrierefreiheit eine Rolle? Wer kann Barrieren abbauen? Und wo kann ich mich beraten lassen? Alle Antworten und viele anschauliche Beispiele und Reports finden Sie auf der Website „Bayern barrierefrei“. Übrigens: Wussten Sie schon, dass Barrierefreiheit nicht nur wichtig ist für Menschen mit Behinderung – sondern uns allen nützt? Schauen Sie rein:
Zur Website „Bayern barrierefrei“

BHS hat in der Familie Neubauer Tradition. Schon Matthias Neubauers Uropa verdiente sein Geld bei den einstigen Berg-, Hütten- und Salzwerken, die BHS den Namen gaben. Sein Opa arbeitete in der Gießerei, sein Vater im kaufmännischen Bereich. Matthias Neubauer führt die Familientradition fort. Er überzeugte im Bewerbungsgespräch; heute ist er Marketing-Assistent bei BHS Corrugated.

Meine Taktik ist: immer selbst auf andere zugehen!

Mit seiner offenen, entspannten und fröhlichen Art machte er es seinen neuen Kolleginnen und Kollegen leicht. „Meine Taktik ist, immer selbst auf andere zuzugehen. Ich habe meine Vorgesetzten und Kollegen eingeladen, zu fragen, was sie wissen wollen. Alle sind sehr offen mit dem Thema umgegangen.“ Berührungsängste habe er am Arbeitsplatz nie erlebt. Barrieren auch nicht.

Vollzeit arbeiten, volle Leistung bringen: ganz normal

Vor dem Firmengebäude: Matthias Neubauer steigt vom Rollstuhl in sein Auto.

Matthias Neubauer will keine „Sonderbehandlung“. Eine von zwei Ausnahmen ist sein Parkplatz direkt vor dem Haupteingang von BHS Corrugated. So kommt er bei jedem Wetter schnell und gut vom Auto ins Büro.

„Ich lebe heute mein normales Leben“, sagt Matthias Neubauer, „mit dem ich sehr glücklich bin. Ich habe einen Vollzeitjob, in dem ich nicht als `der Rollstuhlfahrer´ behandelt werde. Ich darf direkt vor dem Gebäude parken und es gibt eine Liege, auf der ich mich zwischendurch kurz ausruhen kann. Sonst bekomme ich keine Sonderbehandlung; ich muss meine Leistung bringen wie alle anderen.“

Ich muss meine Leistung bringen wie alle anderen.

Barrierefrei, vom Gebäude bis zur Arbeitszeit

Wie andere Beschäftigte mit körperlichen Einschränkungen profitiert Matthias Neubauer von der barrierefreien Gestaltung bei BHS Corrugated. Schon im alten Verwaltungsgebäude kam er mit dem Rollstuhl gut klar. Das neue Lifecycle-Gebäude des Unternehmens, in dem die gesamte Verwaltung und eine große Produktionshalle untergebracht sind, wurde von Anfang an barrierefrei entworfen. An der Detailplanung konnte Neubauer mitwirken und seine Erfahrungen einbringen.

Ebenerdige Zugänge, Aufzüge und breite Flure erschließen das Gebäude. Es gibt behindertengerechte Toiletten, einen Ruheraum, ein Fitnessstudio. Den Sport- und Massagebereich erreichen Menschen mit Gehbehinderung mit einem Plattformlift. In allen Büros stehen höhenverstellbare Schreibtische. Sie unterstützen nicht nur Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Bandscheibenproblemen, sondern beugen auch Rückenerkrankungen vor. Für Matthias Neubauer ist der flexible Schreibtisch besonders wichtig; als Rollstuhlfahrer kann er schließlich seine Sitzhöhe nicht verändern.

Matthias Neubauer auf einem Plattformlift.

Ein Plattformlift überbrückt die Stufen von der Büroetage in den Fitnessbereich des Lifecycle-Gebäudes. Menschen mit Gehhilfe, Rollator oder – wie Matthias Neubauer – mit Rollstuhl erreichen so mühelos die Trainingsräume und die Massagepraxis.

Matthias Neubauer vor einer Hantelbank.

Im Geräteraum ist nur die Hantelbank barrierefrei. Für Matthias Neubauer ist das kein Problem. Seine Muskulatur trainiert er jede Woche in einer externen Physiotherapie-Praxis; außerdem spielt er Rollstuhl-Basketball und ist viel mit seinem Handbike unterwegs.

Matthias Neubauer setzt sich vom Rollstuhl in eine Ruheliege um, die wie ein Kokon geformt ist.

Bei BHS Corrugated muss man es sich fürs erfrischende Kurzschläfchen nicht auf dem Schreibtischstuhl (un-)bequem machen. In einem Raum mit einer hochmodernen „Powernapping“-Liege können sich Körper und Geist entspannen.

Matthias Neubauer streckt sich auf einer Ruheliege aus.

Das Angebot tut auch Matthias Neubauer gut: Lange Tage im Rollstuhl sind eine Herausforderung für seinen Körper. Vom Rollstuhl kann er sich ohne fremde Hilfe auf die Liege umsetzen und es sich in dem Schlummer-Kokon bequem machen.

Nicht nur Gebäude kann man barrierefrei gestalten, sondern auch die Organisation von Unternehmen. Matthias Neubauer kommen die flexiblen Bürozeiten bei BHS Corrugated entgegen. „Als Rollstuhlfahrer braucht man länger fürs Aufstehen, im Bad, beim Anziehen ... Da bin ich froh, dass ich nicht zwingend um 8 Uhr anfangen muss.“ Von frühmorgens bis spätabends im Rollstuhl zu sitzen, strengt den Körper an. Immer wieder stützt sich Matthias Neubauer mit beiden Armen hoch und richtet seinen Körper aus. Wenn er zwischendurch eine kurze Entlastungspause braucht, kann er sich auf einer Liege ausruhen. Außerdem gibt es für alle Beschäftigten eine Powernapping-Kabine. Ein „Powernap“ ist ein kurzes (Büro-)Schläfchen, das tagsüber Körper und Geist erfrischen soll. Bei BHS Corrugated ist die Powernapping-Liege in einen Kokon aus Kunststoff eingebettet, der die Ruhenden abschirmt.

Ruhe bitte!

Stressbedingte Leiden sind auf dem Vormarsch. Nach einer Studie der Techniker Krankenkasse ist die Arbeit in Deutschland Stressfaktor Nummer eins. Vom Bluthochdruck bis zur Depression: Mehr als jeden fünften Beschäftigten hat der Stress schon krank gemacht. (Quelle: Entspann dich, Deutschland. TK-Stressstudie 2016). Für Stress gibt es viele Ursachen. Nicht nur eine stetig steigende Arbeitsmenge kann Menschen unter Druck setzen, sondern auch häufige Unterbrechungen, sei es durch Anrufe, E-Mails oder Lärm im Großraumbüro. Auch hier bemüht man sich bei BHS Corrugated um Entlastung. Ein Raum im Lifecycle-Gebäude garantiert absolute Ruhe beim Nachdenken, Planen oder Schreiben. Er ist mit mehreren Schreibtischen ausgestattet. Telefone dagegen sucht man vergebens – und jede Unterhaltung ist streng verboten.

Interessante Infos u. a. zu Belastungen in der Arbeitswelt stellt die Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) in ihren Faktensammlungen und Reports zusammen. Auf der Website finden Sie eine Einführung zum Thema „Gestaltung gesunder Arbeit“ und können die iga.Fakten und iga.Reports herunterladen.

Zur Website der Initiative Gesundheit und Arbeit

Bildergalerie: im barrierefreien Lifecycle-Gebäude

Matthias Neubauer bedient ein Terminal an einem Empfangsschalter.

Ob Beschäftigte oder Gäste: Eingecheckt und ausgecheckt wird bei BHS Corrugated am Computer. Das Bedien-Terminal am Empfangstresen erreicht Matthias Neubauer vom Rollstuhl aus.

Moderner Konferenzraum mit Sitzreihen auf zwei Ebenen.

Auch der Konferenzraum ist barrierefrei erschlossen. Für entspannte Stimmung sorgt der Blick durch die raumhohen Fenster auf Bäume und den Beckenweiher. Gemeinsam mit den Hammerwerken, auf deren Gelände heute BHS Corrugated Wellpappen-Anlagen baut, gab der kleine See dem Ort seinen Namen: Weiherhammer.

Matthias Neubauer auf einem Balkon des Lifecycle-Gebäudes von BHS Corrugated.

Der Grundriss des Lifecycle-Gebäudes von BHS Corrugated ist wellenförmig geschwungen; die Form erinnert an Wellpappe (und die wird in Anlagen von BHS Corrugated produziert!). Die Stockwerke sind versetzt aufeinander geschichtet; durchlaufende Glasfronten wirken wie Fugen. Ein Atrium verbindet alle Ebenen; Glas sorgt für Durchblick und Einblicke, auch zwischen dem Verwaltungstrakt und der Produktionshalle. Der umlaufende Balkon ist über alle Räume zu erreichen – auch mit dem Rollstuhl.

Matthias Neubauer an einem Computer-Arbeitsplatz.

Alle Schreibtische bei BHS Corrugated sind höhenverstellbar. So können die Beschäftigten ihre ideale Sitzposition einrichten oder zwischendurch auch im Stehen arbeiten und so Rückenbeschwerden vorbeugen. Matthias Neubauer kann die Schreibtischfläche auf die für ihn beste Höhe einstellen. Das ist besonders wichtig: schließlich hat sein Rollstuhl eine feste Sitzhöhe.

Matthias Neubauer am Empfangstresen; eine Mitarbeiterin reicht ihm eine Warnweste.

Nach einem Rundgang durch den Verwaltungstrakt will Neubauer noch die Montagehalle zeigen. Dort sind Warnwesten Pflicht. Als er sich eine der neongelben Westen greift, will ihm eine Kollegin beim Überstreifen helfen. Neubauer lehnt dankend ab. Dann lächelt er wieder sein breites Lächeln. „Ich möchte möglichst viel selbstständig machen“, erklärt er später. „Wenn ich in der Öffentlichkeit unterwegs bin, erlebe ich manchmal übergriffige Situationen. Manchmal lehne ich Hilfe ab und die Leute schieben mich trotzdem im Rollstuhl irgendwohin. Das ist, als würde mich jemand ungefragt an die Hand nehmen.“

Matthias Neubauer fährt im Rollstuhl durch eine Industriehalle.

Sicher ist sicher: Wie im Straßenverkehr gibt es in Industriehallen eine Spur für Fußgängerinnen und Fußgänger und eine für Fahrzeuge, z. B. Gabelstapler. Von den großzügig angelegten Pisten profitiert auch Matthias Neubauer. Er kommt in den Hallen schnell und ungehindert voran.

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Aha!

Barrierefreiheit betrifft längst nicht nur Gebäude, Möbel und technische Ausstattung. Genauso wichtig ist die Frage, wie man z. B. Arbeitszeiten und Arbeitsabläufe organisiert.

Zurück ins Arbeitsleben: Ronald Behrend

Porträtfoto: Ronald Behrend.

Ronald Behrend ist Diplom-Betriebswirt, Prozesstechniker, Erwachsenenbildner. Er mag Zahlen und Menschen. Ersteres glauben wir ihm, Letzteres erlebt, wer mit ihm ins Gespräch kommt.

Ronald Behrend leitet im Überbetrieblichen Bildungszentrum in Ostbayern (ÜBZO) die Abteilung für Arbeitsmarktmaßnahmen. Das Angebot reicht von Arbeitserprobungen über Fortbildungen bis hin zu Umschulungen und Qualifizierungen. Das Ziel: Menschen (wieder) fitzumachen für den ersten Arbeitsmarkt und die Herausforderungen der Digitalisierung in der Bildung zu meistern. Den Weg, den die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vor sich haben, kennt Behrend aus eigener Erfahrung. Er war 19 Jahre alt, hatte gerade seine Ausbildung zum Möbelschreiner abgeschlossen und sich bei der Bundeswehr verpflichtet, als er 1986 mit dem Motorrad verunglückte. Er verlor sein linkes Bein, sein linker Arm ist seither gelähmt. Weil sein Bein weit oben abgetrennt wurde, tat er sich schwer mit Prothesen. Krücken waren wegen seines unbeweglichen Arms keine Alternative. Also sitzt Ronald Behrend im Rollstuhl. Ein paar Stufen überwindet er notfalls hüpfend auf einem Bein. Doch eine barrierefreie Umgebung zieht er ganz klar vor.

Keine Lust aufs Standardangebot

Möbel bauen konnte Behrend nach dem Unfall nicht mehr. Sobald er sich ins Leben zurückgekämpft hatte, stand für Ronald Behrend fest: „Ich will nicht in einem Büro vergammeln.“ Doch es waren die 80er-Jahre, für Menschen mit Behinderung hatte das Arbeitsamt damals nur einige wenige Standardangebote parat: Pförtner, Telefonist oder, bestenfalls, etwas Kaufmännisches. Ronald Behrend hatte andere Pläne. Er erstritt sich finanzielle Beihilfen, um die Realschule zu besuchen. Die schloss er erfolgreich ab, hängte gleich noch das Fachabitur dran, studierte dann BWL mit Schwerpunkt Personalwirtschaft und anschließend mit Schwerpunkt Finanzwirtschaft. Also doch ins Büro? Ronald Behrend lacht. „Ich kann halt ganz gut mit Menschen und mit Zahlen.“

Ich kann zwar nichts mehr herstellen – aber ich kann Menschen etwas beibringen!

Behrend bewarb sich bei einem Bildungsanbieter als Controller. „Die Stelle war schon weg. Aber in der Erwachsenenbildung war etwas frei, eine Stelle in der beruflichen Rehabilitation. Da habe ich mich total gefreut.“ Behrend wollte im Beruf etwas Bleibendes schaffen. „Ich kann zwar nichts mehr herstellen – aber ich kann Menschen etwas beibringen!“

Aha!

Die Berufliche Rehabilitation hilft Menschen, z. B. nach einem Unfall oder einer schweren Erkrankung wieder ins Erwerbsleben zurückzukehren. Die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben reichen von Geld- bis zu Sachleistungen. Beispiele: eine Umschulung, ein Zuschuss zur Existenzgründung, eine Beihilfe für den Kauf eines behindertengerechten Autos (für die Fahrt zum Arbeitsplatz) oder Mittel, um eine Assistenzkraft anzustellen. Hier erfahren Sie mehr über Leistungen, Voraussetzungen und Beratungsstellen in Ihrer Nähe:

Berufliche Rehabilitation: Infos der Deutschen Rentenversicherung

In Behrends Kursen saßen Arbeitsuchende, Strafgefangene, Qualifizierungswillige, Menschen mit und ohne Behinderung – genauso wie die Friseurin, die wegen einer Allergie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte oder der Koch mit einer chronischen Nagelbettentzündung. Ronald Behrend betreute den kaufmännischen Bereich. In Arbeitserprobungen half er Teilnehmerinnen und Teilnehmern, ihre körperliche und seelische Belastbarkeit auszuloten und herauszufinden, in welchem Bereich ihre berufliche Zukunft liegen könnte. In Umschulungen begleitete er Menschen bis zum Berufsabschluss. „Die Menschen, die in meine Kurse kamen, waren anfangs teils sehr skeptisch. Hier war meine Behinderung oft ein Vorteil. Die Leute hatten das Gefühl: Der weiß, wovon er spricht.“

Qualifiziert. Erfahren. Chancenlos?

Rund 20 Jahre lang arbeitete Ronald Behrend in der Erwachsenenbildung mit dem Schwerpunkt der beruflichen Rehabilitation, erst in München, dann in leitender Position in Augsburg und Donauwörth sowie kurz in Weiden. Schließlich wollte er sich verändern und zurückkehren in seine Heimat, die Oberpfalz. „Ich habe 50 oder 60 Bewerbungen geschrieben, aber ich wurde nicht mal eingeladen – höchstens von Volkshochschulen in kommunaler Trägerschaft, denn diese mussten Menschen mit Behinderung in Betracht ziehen. Ich musste am eigenen Leib erfahren: Es gibt kaum Betriebe ohne Vorurteile und einer negativen Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung. Es ist vielen Verantwortlichen bis heute nicht klar, dass Menschen mit Behinderung Leistung bringen wollen und können; andernfalls kann man sich auch schnell wieder trennen.“

Es ist vielen Verantwortlichen bis heute nicht klar, dass Menschen mit Behinderung Leistung bringen wollen und können; andernfalls kann man sich auch schnell wieder trennen.

Schließlich kam das Überbetriebliche Bildungszentrum in Ostbayern (ÜBZO) auf Behrend zu. Der Bildungsdienstleister will Berufsneulinge und alte Hasen fitmachen für das digitale Zeitalter. Angebunden ist das ÜBZO an seinen früheren Mutterkonzern BHS Corrugated. 2014 suchte das ÜBZO einen Prozesstechniker, der das Kompetenzzentrum voranbringen sollte. Ob ein Mann mit Schwerbehinderung die Herausforderung würde stemmen können? Für Lars Engel, Geschäftsführer von BHS Corrugated, keine Frage. „Den nehmen wir“, entschied er: „Er muss doch nicht tanzen bei uns!“

Porträtfoto: Ronald Behrend am Schreibtisch.

Nach seinem Unfall wollte Ronald Behrend auf keinen Fall einen eintönigen Bürojob. Heute jongliert er am Schreibtisch mit Zahlen, Daten und entwickelt Projekte, konzipiert Bildungsmaßnahmen, gründet und erhält Bildungsnetzwerke.

Ronald Behrend vor einem Fabrikmodell.

Er entwickelt Konzepte für Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung sowie Qualifizierung bis hin zur Zertifizierung. Im ÜBZO arbeiten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer z. B. an dieser voll funktionsfähigen Lernfabrik im Miniaturformat und an Maschinen im Originalformat.

Ronald Behrend kam 2014 zum ÜBZO. Als er das erste Mal durch die Ausbildungshallen rollte, merkte er, dass sich hinter ihm die Köpfe teils ungläubig drehten und einige Menschen tuschelten. „Die meisten Ausbilder waren tatsächlich nicht auf einen Kollegen im Rollstuhl gefasst.“ Behrend tanzte nicht, sondern zeigte, was er im Job leisten kann, auf persönlicher und fachlicher Ebene. „Heute habe ich das Gefühl, dass Kollegen, Azubis und Vorgesetzte den Rollstuhl gar nicht mehr wahrnehmen.“ Nur wenn ein neuer Jahrgang von Azubis die Hallen füllt, wird ein paar Tage lang geguckt. „Prinzipiell finde ich es sehr gut, wenn sich Menschen über Handicaps – auch die meinen – unterhalten. Für etliche ist es das erste Mal, dass sie in so naher Distanz damit konfrontiert werden. Sehr schnell versuche ich meist, die ersten Hemmschwellen der Azubis zu lösen – spätestens dann, wenn ich selbst unterrichte. Am besten empfinde ich es, wenn nicht über mich gesprochen wird, sondern mit mir. Annäherungsprobleme, Scheu oder Hemmungen sind mir fremd, wie eben auch bei Menschen ohne Behinderung.“

Ein Rat an Arbeitgeber

Genau wie Matthias Neubauer ist Ronald Behrend wichtig: „Über technische Hilfsmittel hinaus will ich keine Sonderstellung haben.“ Damit Inklusion gelingen kann, sieht er alle in der Pflicht: Arbeitgeber, Führungskräfte und die Beschäftigten mit und ohne Behinderung. Unternehmen rät er: „Ausprobieren! Ohne Angst, aber auch ohne Bonusdenken gegenüber dem Betroffenen. Überlegen Sie einfach, ob der Bewerber sich fachlich eignet!“

Arbeitgebern rate ich: Ausprobieren! Ohne Angst, aber auch ohne Bonusdenken gegenüber dem Betroffenen. Überlegen Sie einfach, ob der Bewerber sich fachlich eignet!

Und ein Rat an Arbeitsuchende mit Behinderung

„Seien Sie in Ihrem Bewerbungsschreiben ganz klar und deutlich“, empfiehlt Ronald Behrend Menschen mit Behinderung auf Jobsuche. „Betonen Sie Ihre Leistungsfähigkeit für die ausgeschriebene Stelle. Für das Vorstellungsgespräch rate ich: Wenn Sie Hilfsmittel brauchen, dann benennen Sie diese – und weisen Sie auch darauf hin, dass Arbeitgeber kostenlose Beratung und Fördermittel beantragen können.“

Inklusion, die Fakten: Harald Hiller, Leiter Personalmanagement

Porträtfoto: Harald Hiller.

Bei BHS Corrugated beschäftigte sich HR-Manager Harald Hiller zum ersten Mal mit dem Thema Inklusion. Heute arbeitet er eng mit der Schwerbehindertenvertretung im Unternehmen zusammen und berät Führungskräfte zu Fragen des inklusiven Miteinanders.

Betriebe mit 20 oder mehr Arbeitsplätzen müssen mindestens fünf Prozent ihrer Stellen mit Menschen mit Schwerbehinderung besetzen (Pflichtquote). BHS Corrugated hat das Ziel noch nicht ganz erreicht, derzeit liegt die Quote des Unternehmens bei vier Prozent. Viele Beschäftigte haben „unsichtbare“ Behinderungen wie chronische Rückenleiden oder Einschränkungen nach einem Herzinfarkt. „Unsere Beschäftigten sind uns lange treu“, berichtet Harald Hiller, Leiter des Fachbereichs Personalmanagement bei BHS Corrugated. „Vor allem im technischen Bereich. Jedes Jahr ehren wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die schon 30, 40 oder 45 Jahre bei BHS Corrugated arbeiten.“

Um den Nachwuchs müsse das Unternehmen dagegen werben. „Der Fachkräftemangel ist für uns täglich Thema.“ Die Jugend aus der Region ziehe es in die größeren Städte und an die Universitäten. Hiller selbst lockten die Vielfalt der Menschen und der Aufgaben bei BHS Corrugated nach Weiherhammer. In seinem Studium war Inklusion kein Thema. Ronald Behrend und Matthias Neubauer waren die ersten Menschen mit Behinderung, denen er im Berufsleben begegnete. Für Hiller begann ein Lernprozess, schon vor dem ersten Treffen. „Mein Büro im alten Firmengebäude war nicht barrierefrei. Wenn ich mich mit Herrn Neubauer austauschen wollte, mussten wir in einen Besprechungsraum gehen.“

Das Lifecycle-Gebäude von BHS Corrugated mit angeschlossener Montagehalle und Restaurant ist barrierefrei gestaltet. Das inklusive Miteinander gelinge gut, meint Harald Hiller. „Die Beschäftigten mit Behinderung laufen mit wie alle anderen auch. Bei Bedarf finden wir individuelle Lösungen. Wenn ein Mitarbeiter aus der Produktion seinen Job nicht mehr ausüben kann, versuchen wir, ihn z. B. in der Planung einzusetzen. Wir wollen aber keinen großen Hype um das Thema machen, sondern allen Mitarbeitern vermitteln: Nicht die äußere Form wird bewertet, sondern der Inhalt – die Leistung, die ein Mensch erbringt.“ Ältere Beschäftigte würden wertgeschätzt – auch wenn sie keine körperlichen Höchstleistungen mehr stemmen können. „Wir fertigen Wellpappen-Anlagen mit langer Lebensdauer. Da sind die alten Hasen wichtig, die sich auch mit einer 30 Jahre alten Anlage auskennen.“

Aha!

Ob er rechtliche Fragen rund um die Inklusion hat oder Infos zu Fördermöglichkeiten sucht: Rat holt sich Personalleiter Harald Hiller beim Arbeitgeberservice der Arbeitsagentur oder beim Verband der Bayerischen Metall- und Elektro-Industrie.
Hier finden Sie Infos zu drei übergeordneten Anlaufstellen:


Harald Hillers Rat an Personalverantwortliche: „Kein Unternehmen kann es sich noch leisten, Menschen mit Behinderung zu ignorieren – gerade in Regionen wie der nördlichen Oberpfalz mit ihrer hohen Industriedichte und entsprechendem Bedarf an Fachkräften. Inklusion ist ein Erfolgsfaktor: Denken Sie bei der Mitarbeitergewinnung an Menschen mit Behinderung genauso wie an junge Eltern oder pflegende Angehörige. Stellen Sie einen oder zwei Menschen mit Behinderung ein, lernen Sie voneinander und sammeln Sie Erfahrungen!“

Inklusion als Erfolgsfaktor: Lars Engel, Geschäftsführer von BHS Corrugated

Lars Engel, Geschäftsführer von BHS Corrugated, ist froh, dass Ronald Behrend das ÜBZO-Team verstärkt: „Herr Behrend ist Gold wert. Er hat eine starke Ausstrahlung und eine bewundernswerte Art, mit Menschen umzugehen.“

Ob im Bildungszentrum oder bei BHS Corrugated – Inklusion ist für Engel ein Erfolgsfaktor. Den Begriff beschränkt er nicht nur auf Menschen mit Behinderung. „Wir machen 90 Prozent unseres Umsatzes außerhalb Deutschlands. Wir arbeiten weltweit mit Menschen aus verschiedensten Kulturen und Religionen zusammen. 50 Prozent unserer Mitarbeiter haben keinen deutschen Pass, meine Eltern waren selbst Flüchtlinge. Mit einer inklusiven Haltung gewinne ich Verständnis für die Vielfalt der Welt.“ Inklusive Unternehmen profitieren mehrfach, unterstreicht Engel. „Je größer der Mix an Mitarbeitern in einem Unternehmen, desto größer ist auch der Pool an Fähigkeiten und Erfahrungen, Perspektiven und Ideen. Diese Vielfalt der Beschäftigten macht uns als BHS Corrugated aus.“

Je größer der Mix an Mitarbeitern in einem Unternehmen, desto größer ist auch der Pool an Fähigkeiten und Erfahrungen, Perspektiven und Ideen.

Als Arbeitgeber, sagt Lars Engel, müsse man sich heute bei den potenziellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bewerben, nicht umgekehrt. „Das Unternehmen muss Leute für sich gewinnen. Und wenn ich die bestmöglichen Mitarbeiter suche: dann kann ich mich doch nicht an einer Behinderung stören!“ Sein Tipp an andere Arbeitgeber: „Werfen Sie Ihre Vorurteile über Bord. Sie werden sich wundern, auf welche tollen Fähigkeiten Sie treffen.“

Natürlich profitierten nicht nur die Unternehmen von fähigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. „Arbeiten zu können, ist ein wichtiger Teil des täglichen Lebens – das sollte niemandem verwehrt bleiben. Alle Menschen haben ein Recht darauf, sich zu verwirklichen, selbstbestimmt zu arbeiten, ihre Potenziale zu entdecken und auszubauen.“

Wenn ich die bestmöglichen Mitarbeiter suche: dann kann ich mich doch nicht an einer Behinderung stören! Werfen Sie Ihre Vorurteile über Bord. Sie werden sich wundern, auf welche tollen Fähigkeiten Sie treffen.