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Inklusive Arbeitswelt

Wacker: wertvoll und vollwertig

Das Firmengelände von Wacker in Burghausen hat eine Fläche von zwei Quadratkilometern und ist damit so groß wie die Münchener Altstadt. Fast 10.000 Beschäftigte, rund 150 Produktionsbetriebe und einige 1.000 Produkte – das Werk ist der größte Chemiestandort Bayerns. Doch nicht nur diese Dimensionen beeindrucken, auch in Sachen Inklusion macht das Unternehmen große Schritte. Derzeit arbeiten am Standort in Burghausen 785 Menschen mit Behinderung; die Schwerbehindertenquote liegt damit bei 10,3 Prozent. Wir haben mit Mirjam Nagl, Vertrauensperson der Schwerbehinderten bei Wacker, gesprochen. Außerdem haben wir Philipp Ellguth getroffen, der im Labor trotz einer Fehlbildung an beiden Händen feinmotorisch arbeitet. Wie er ist auch Stefan Kaiser als Azubi ins Unternehmen eingestiegen. Der IT-Fachmann hat eine Sehkraft von fünf bis zehn Prozent. Einen Langstock braucht er nicht – auch nicht für die weiten Wege auf dem Werksgelände.

Porträtfoto: Philip Ellguth.

Über Mirjam Nagl

Porträtfoto: Mirjam Nagl.

„Meine Devise: Der persönliche Kontakt zu Ämtern und Behörden ist immer der beste.“

Mirjam Nagl beschreibt sich selbst als offen und engagiert – Berührungsängste kennt sie nicht. 1994 hat sie ihre Ausbildung zur Chemielaborantin bei Wacker begonnen. Im selben Jahr wurde sie in die Jugendvertretung gewählt, eine Art Betriebsrat für die Azubis. Ab 2002 gehörte sie dann zum Betriebsrat. Vier Jahre später übernahm sie das Amt der Schwerbehindertenvertrauensperson – zunächst stellvertretend, anschließend hauptverantwortlich.

Interview: großes Glücksgefühl

Frau Nagl, was sind Ihre Aufgaben als Vertrauensperson der Schwerbehinderten?

Ich bin Ansprechpartnerin für alle Menschen mit Behinderung im Konzern. Ich berate sie in vielen Angelegenheiten – unter anderem zu Neuanträgen und Gleichstellungsanträgen, aber auch zur Altersteilzeit oder Rente. Außerdem besichtige ich Arbeitsplätze und prüfe, ob Beschäftigte Hilfsmittel benötigen oder womöglich in einem anderen Tätigkeitsbereich besser aufgehoben sind. Dabei arbeite ich immer Hand in Hand mit dem Betriebsrat, der Personalabteilung und dem Werksarzt. Wenn es um schwerbehinderte oder gleichgestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geht, bin ich auch bei Personalgesprächen dabei. Ich habe in meinem Job schon viel gelernt: Ich kenne die Rechtsprechungen und habe viele Kontakte in umliegenden Ämtern geknüpft – zum Beispiel zu den Arbeitsagenturen und dem „Zentrum Familie und Soziales (ZBFS)“. Meine Devise: Der persönliche Kontakt ist immer der beste.

Die Schwerbehindertenquote am Standort Burghausen liegt derzeit bei 10,3 Prozent. Wie gehen Sie auf die Beschäftigten ein?

Es gibt ganz unterschiedliche Behinderungen, die meisten entstehen im Laufe des Arbeitslebens. Der größte Teil unserer Beschäftigten hat mit Einschränkungen im Bewegungsapparat zu kämpfen, aber auch psychische Erkrankungen, Herzkrankheiten, Krebserkrankungen oder Diabetes können zu Behinderungen führen. Muss zum Beispiel ein Schichtmitarbeiter regelmäßig Insulin spritzen, ermöglichen wir ihm eine geregelte Tagschicht. So kann er seinen Rhythmus besser einhalten. Auch bauliche Veränderungen helfen: In einem Gebäude soll ein Treppenlift eingebaut werden. Im Berufsbildungswerk haben wir zusätzlich zum Aufzug noch einen Treppenlift installiert und ein Behinderten-WC eingerichtet, damit alle Menschen mit Behinderung an Schulungen und am Unterricht teilnehmen können.

Inklusion heißt für mich, dass wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur integrieren, sondern dass sie ein vollwertiger Teil der Gesellschaft sind.

Bei Wacker arbeiten in allen Bereichen Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Es gibt unterschiedliche Herausforderungen – zum Beispiel Vorurteile und Unwissenheit bei Kolleginnen und Kollegen oder den Vorgesetzten. In solchen Fällen ist es wichtig, zu informieren und zu sensibilisieren.

Wie schaffen Sie das konkret?

Wenn jemand Berührungsängste hat, erklären wir der Person alles zum Thema Behinderung und Inklusion am Arbeitsplatz. Beim Begriff „Schwerbehinderung“ denken viele gleich an einen Rollstuhlfahrer oder einen Menschen mit geistiger Behinderung. Aber sie vergessen die nicht sichtbaren Behinderungen – wie einen Bandscheibenvorfall, eine Krebserkrankung oder auch psychische Belastungen. Ich versuche, den Menschen bewusst zu machen: Es kann jederzeit jedem passieren – wenn man wegen einer kleinen Treppenstufe stürzt oder einen Schlaganfall erleidet. Das kann zu dauerhaften Einschränkungen führen und das gesamte Leben auf den Kopf stellen. Wir sehen immer wieder: Die Beschäftigten möchten arbeiten. Sie sind frustriert, wenn sie nicht mehr ihre gewohnte Leistung erbringen können. Wenn wir dann einen Arbeitsplatz für sie gestalten und ihnen dabei helfen, weiterhin arbeiten zu können, dann ist das für mich ein großes Glücksgefühl. Viele Schwierigkeiten lösen sich dann auch auf, das motiviert und steigert das Selbstwertgefühl. Dieses positive Feedback ist das Schönste an meiner Arbeit.

Beim Begriff „Schwerbehinderung“ denken viele gleich an einen Rollstuhlfahrer oder einen Menschen mit geistiger Behinderung. Aber sie vergessen die nicht sichtbaren Behinderungen – wie einen Bandscheibenvorfall oder auch psychische Erkrankungen.

Was empfehlen Sie Arbeitgebern, die Menschen mit Behinderung einstellen möchten?

Ich rate ihnen auf jeden Fall dazu. Wenn man Menschen mit Behinderung einstellt, ist das in vielen Bereichen eine echte Bereicherung – gerade was das Miteinander angeht. Man wird feinfühliger. Das bringt uns nicht nur im Arbeitsleben, sondern insgesamt weiter. Menschen mit Behinderung leisten oft mehr als andere. Sie sind motiviert und wissen es zu schätzen, wenn sie sehen, was sie schaffen können.

Mirjam Nagl vor einem Aktenschrank.

Über 1.100 Akten befinden sich in diesem Schrank. „Alles Anträge, Protokolle und rechtliche Formulare.“

Was ist das Wichtigste, das Sie durch die inklusive Arbeit gelernt haben?

Nicht aufzugeben und hartnäckig zu sein! Inklusion heißt für mich, dass wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht nur integrieren, sondern dass sie ein vollwertiger Teil der Gesellschaft sind. Unser Mitarbeiter Stefan Kaiser ist so ein Fall, da klappt das wunderbar. Seine Kolleginnen und Kollegen denken gar nicht mehr an seine Sehbehinderung – es ist für sie selbstverständlich, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich möchte, dass wir noch mehr Azubis mit Behinderung einstellen. Mein Tipp für Bewerbende mit Behinderung ist, dass sie ihre Behinderung von Beginn an angeben. Wir möchten Jugendliche fördern, wo es möglich ist. Wir unterstützen sie mit Nachhilfe und schaffen auch Stellen, um sie in den ersten Arbeitsweg zu bringen. Ein weiterer Wunsch: die Rolle der Schwerbehindertenvertrauensperson im Betrieb und auch an unseren anderen Standorten weiter zu stärken. Ich möchte das Bewusstsein fördern, dass es uns gibt und dass man uns immer fragen kann. Es muss sich in den Köpfen verankern: Hier hat jemand eine Schwerbehinderung, also wende ich mich an die Vertrauenspersonen. Dann funktioniert Inklusion.

Über Philipp Ellguth

Porträtfoto: Philipp Ellguth.

„Bei der Bewerbung habe ich meinen Schwerbehindertenausweis beigelegt. Früher habe ich mich dafür geschämt, heute zeige ich ihn auch im Kino oder Schwimmbad vor.“

Nach der Wirtschaftsschule hat Philipp Ellguth sich für eine Ausbildung als Chemielaborant bei Wacker entschieden. Nach dem Vorstellungsgespräch und einem Einstellungstest folgte schnell die Zusage. Als er ausgelernt war, machte er zwei Jahre berufsbegleitend eine Weiterbildung zum Labortechniker. Seit 2014 ist Philipp Ellguth stellvertretende Vertrauensperson der Schwerbehinderten. Er hat eine angeborene Fehlbildung an beiden Händen.

Der Eisbrecher

Doppelkammerkartusche, Druckluftpistole, Kneter und Pipetten säumen das Labor der Wacker Chemie AG. Wenn er nicht in seinem Büro arbeitet, testet und entwickelt Philipp Ellguth im Labor der Wacker Chemie AG Silicone. Dabei muss der Labortechniker oft Fingerspitzengefühl beweisen. Dass er das kann, ist nicht selbstverständlich. Philipp Ellguth hat eine Syndaktylie, eine angeborene Verwachsung der Fingerglieder an beiden Händen. „Bei mir ist das eine Laune der Natur gewesen“, sagt er. Weil eigene Kinder für ihn zukünftig auch ein Thema sind, hat er einen Gentest machen lassen. Es zeigte sich: Die Fehlbildung ist nicht vererbbar. Im Mutterleib hatten sich Eiweißfäden um seine Hände gewickelt, deshalb konnten sich die Finger nicht richtig ausbilden. Am Anfang waren alle Finger zusammengewachsen und wurden in mehreren Operationen so gut wie möglich voneinander getrennt. „Die Ärzte meinten damals, wenn ich schreiben könnte, wäre das schon toll. Arbeiten könne ich aber sicher nicht. Sie lagen falsch.“ Die beste Schönschrift hatte er in der Schule zwar nicht, aber Philipp Ellguth hat alles gelernt wie andere Kinder auch – z. B. mit Messer und Gabel zu essen. Auch beim Computertippen ist er sehr schnell. „Ich habe eben eine kürzere Übersetzung als andere“, scherzt Philipp Ellguth mit Blick auf seine verkürzten Finger. Hilfsmittel braucht er keine, auch nicht im Labor. „Ich könnte spezielle Handschuhe bekommen, möchte ich aber nicht. Ich habe mich an die normalen Handschuhe gewöhnt.“

Die Ärzte meinten damals, wenn ich schreiben könnte, wäre das schon toll. Arbeiten könne ich aber sicher nicht. Sie lagen falsch.

Berührungsängste gab es natürlich. „Im Kindergarten haben die anderen gefragt, was ich habe. Als ich es ihnen erklärte und sagte, dass ich achtmal operiert wurde, waren sie sogar beeindruckt“, erinnert sich Philipp Ellguth. In seiner Jugend wurde er manchmal aufgezogen wegen seiner Hände, „aber meine Freunde haben mich immer unterstützt.“ Seit der Grundschule spielt er Fußball im Verein, seine Behinderung war hier eigentlich nie ein Thema.

Bis heute ist es ihm lieber, wenn Leute ihn direkt fragen, was er habe. „Was natürlich nicht schön ist: Wenn ich einfach nur angeglotzt werde – wie vor Kurzem im Supermarkt“, berichtet Philipp Ellguth. „Eine Frau hat die ganze Zeit auf meine Hände geschaut. Mir ist das gar nicht aufgefallen, aber meine Freundin hat die Dame dann angesprochen und wir sind ins Gespräch gekommen.“ Reden hilft also? „Unbedingt, das gilt auch für mich“, sagt der Labortechniker und erzählt: „Wenn Menschen mir die Hand geben, greifen manche nach meinem Handgelenk. Das habe ich früher nicht verstanden. Als ich mit Leuten drüber geredet habe, stellte sich heraus: Sie hatten einfach Angst, dass sie mir wehtun könnten – das ist aber nicht so. Man kann meine Hand einfach anfassen.“

Philipp Ellguth bei der Arbeit im Chemielabor.

Im Labor kommt es auf Genauigkeit an: Ein Tropfen zu viel und die Silicon-Mischung ist verfälscht.

Nahaufnahme: Hände mit einer Fehlbildung.

Feinmotorik ist für Philipp Ellguth trotz seiner Behinderung kein Problem.

Von skeptisch bis absurd

Bei der Einstellungsuntersuchung, die im Betrieb alle machen, war der Arzt mit Blick auf seine Fehlbildung zunächst skeptisch. „Ich habe ihm erklärt, dass ich sie von Kind an habe und mir selber beigebracht habe, wie ich was machen muss“, erinnert sich Philipp Ellguth. Der Betriebsrat und der damalige Schwerbehindertenvertreter waren schnell überzeugt: „Das machen wir, das kannst du auf jeden Fall.“ Es hat sich gelohnt, auch wenn es ein paar Hürden gab. Im ersten Ausbildungsjahr hatte der Labortechniker Probleme mit dem Lernen und aufgrund seiner Lücken in Naturwissenschaften nicht die besten Noten. „Auch da hat Inklusion stattgefunden“, betont er. „Meine Kollegen haben mich beim Lernen unterstützt. Das hat mir sehr geholfen und meinen Noten gutgetan – ich habe sogar eine Begabtenförderung bekommen für Sprachreisen oder Weiterbildungen.“

Ein Arzt hat mir viel Geld abgenommen – dafür, dass ich meinen Namen geschrieben, seine Schuhe gebunden und an seinem Finger gezogen habe.

Auch privat gibt es für Philipp Ellguth keine Einschränkungen. Er erinnert sich an seine Führerscheinprüfung: Auf Rat seines Fahrlehrers hatte er sich vor der Prüfung ein Attest geben lassen, falls der Fahrprüfer Zweifel wegen seiner Fehlbildung haben könnte. „Ein Arzt hat mir viel Geld abgenommen – dafür, dass ich meinen Namen geschrieben, Schuhe gebunden und an seinem Finger gezogen habe“, erzählt Philipp Ellguth. „Ich war so empört, dass ich die Geschichte öffentlich gemacht habe.“ Der Arzt hat sich abgesetzt. Das Attest musste Philipp Ellguth nicht vorzeigen, seinen Führerschein hat er auch so gemacht.

Auch mal ein Spaß

Als stellvertretende Vertrauensperson der Schwerbehinderten berät Philipp Ellguth seine Kolleginnen und Kollegen, die sich ihm gegenüber meist schnell öffnen. „Es ist natürlich ein Eisbrecher, wenn ich von meiner eigenen Behinderung erzähle.“ Außerdem ist er auf Schulungen – zum Beispiel zu den Themen Sucht, körperliche und psychische Erkrankungen oder Mobbing. Viele vergessen seine Behinderung, oft fällt sie Leuten auch erst gar nicht auf. „Bei Schulungen für die Schwerbehindertenvertretung habe ich schon mal gesagt: ‚Wer meine Behinderung herausbekommt, dem zahle ich ein Bier‘“, erzählt Philipp Ellguth. „Ich bin zum Glück selbstbewusst, gehe mit meiner Behinderung locker um und kann auch mal ein Späßchen machen.“

Und was ist Inklusion für Philipp Ellguth? „Ich lebe Inklusion. Ich sehe in meinem Umfeld: Ich bin immer gleichwertig, auch mit meiner Behinderung. Und Inklusion betrifft ja auch nicht nur das Thema Behinderung – auch Religion oder Nationalität. Wir sollten alle versuchen, nicht vorschnell zu urteilen.“

Über Stefan Kaiser

Stefan Kaiser läuft auf dem Firmengelände.

Stefan Kaiser kommt ohne Langstock von A nach B. In seiner Freizeit fährt er auch Rad. Dabei braucht er etwas Zeit, um Wege zu lernen und eine kontrastreiche Umgebung. Außerdem muss es hell sein. Früher ist er auch Mountainbike gefahren. „Das würde ich jetzt nicht mehr machen, auch aus Verantwortung gegenüber meiner Familie.“ Seine Kinder und seine Frau haben gesunde Augen, „das lassen wir regelmäßig testen“.

Stefan Kaiser wurde blind geboren. Nach mehreren Operationen hat er heute eine Sehkraft von fünf bis zehn Prozent. Auf seine kaufmännische Ausbildung bei Wacker folgten Stationen im Büromanagement sowie in der Personalabteilung und Entgeltabrechnung. Heute arbeitet Stefan Kaiser in der IT-Abteilung, testet Hilfsmittel und ist für Arbeitsplätze der blinden und sehbehinderten Menschen im Unternehmen zuständig.

Aus zehn mach hundert

Als Stefan Kaiser drei Monate alt war, wurden seine Augenlinsen operativ entfernt, seitdem trägt er eine Brille als Linsenersatz. „Es gibt schon lustige Babyfotos von mir – mit Strampler und Hornbrille.“ Die ersten Probleme begannen in der Schule. Weil er viel Licht braucht, saß Stefan Kaiser immer in der ersten Reihe. Gesehen hat er trotzdem nichts. „Leider durften Schulen Prüfungsunterlagen ohne Genehmigung nicht größer kopieren“, erinnert er sich. Seine Eltern erfuhren damals vom Sehbehinderten- und Blindenzentrum in Unterschleißheim. Ihr Sohn war begeistert und wechselte auf die dortige Realschule. Hier gab es viele Hilfsmittel wie Bildschirmlesegeräte oder höhenverstellbare Schreibtische. „Nach dem Abschluss wollte ich eigentlich Schreiner werden, das geht aber mit meiner Sehbehinderung nicht“, erzählt Stefan Kaiser. Also entschied er sich für eine kaufmännische Ausbildung und bewarb sich 1990 als Bürokaufmann bei Wacker. Hier wurde er immer unterstützt – ob durch größer kopierte Unterlagen in der Berufsschule oder die Einstellung der Vorgesetzten: „Das schafft der.“

Verschwommen ist für mich nichts – was ich sehe, ist für mich normal. Oder anders: Meine 10 Prozent sind meine 100 Prozent.

Mithilfe von Arbeitsamt und Integrationsamt hat Stefan Kaiser damals als einziger Azubi und Mitarbeiter im Unternehmen einen 20-Zoll-Röhrenbildschirm bekommen. „Der hat 35 kg gewogen. Während der Ausbildung war ich in vielen Bereichen tätig – die Kollegen, die ihn für mich tragen mussten, hatten wirklich etwas zu tun“, erinnert er sich. „Das war mir unangenehm. Aber für die anderen war von Anfang an alles ganz normal.“ Viele seiner Kolleginnen und Kollegen nehmen seine Behinderung gar nicht wahr. Das liegt auch daran, dass Stefan Kaiser weder Langstock noch Blindenbinde nutzt. Er merkt sich Wege und erkennt Hindernisse, wenn sie sehr nah sind. Er fährt sogar Fahrrad. Und wie nimmt er seine Umwelt wahr? „Stellen Sie sich vor, Sie nehmen ein Fernglas, drehen es um und schauen hinein. Ich sehe Umrisse und Farben, aber es ist alles weiter weg – deshalb brauche ich beim Arbeiten Hilfsmittel. „Verschwommen ist für mich nichts – was ich sehe, ist für mich normal. Oder anders: Meine 10 Prozent sind meine 100 Prozent.“

Bildergalerie: unter der Lupe

Seit 1997 arbeitet Stefan Kaiser in der IT, betreut den Personalbereich, den Betriebsrat, das Bildungszentrum und die Werksleitung in allen IT-Themen. Ein großer Monitor war 27 Jahre sein Standardhilfsmittel. Heute testet Stefan Kaiser Hilfsmittel für sich sowie seine Kolleginnen und Kollegen. Nicht immer einfach: Es dauerte zum Beispiel mehrere Jahre, bis er eine passende Lupensoftware gefunden hat.

Stefan Kaiser an seinem Schreibtisch.

Seit 2017 hat Stefan Kaiser einen standardisierten Sehbehindertenarbeitsplatz, den er selbst mitentwickelt hat, mit einem 24-Zoll-Monitor und einer herkömmlichen Dokumentenkamera. Auch seine Spezialtastatur erleichtert ihm das Arbeiten – dank gut lesbarer Beschriftung und einfacher Tastenkombinationen.

Stefan Kaiser arbeitet am Computer.

Die Dokumentenkamera (links) überträgt Dokumente oder Zeitschriften direkt auf seinen Monitor. „Unter der Kamera des Lesegeräts kann ich aber zum Beispiel auch einen Faden in ein Nadelöhr einfädeln“, erklärt Stefan Kaiser.

Blick auf Bildschirm: Text mit Kontrast und Vergrößerung.

Nach vielen Tests hat Stefan Kaiser die passende Lupensoftware gefunden. „Was mich persönlich immer stört: Hilfsmittel für Menschen mit Behinderung sind oft automatisch sehr teuer. Das müsste heutzutage nicht mehr sein – denn technische Möglichkeiten gibt es viele.“ Lupensoftware und Dokumentenkamera ersetzen zum Beispiel ein teures Bildschirmlesegerät.

Nahaufnahme: Tablet mit einem vergrößerten und markierten Text.

Zusätzlich zu seinem Schreibtisch hat Stefan Kaiser einen mobilen Arbeitsplatz. Auf seinem Tablet kann er Textstellen heranzoomen und durch farbige Markierungen hervorheben.

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Einfach weiter!

Stefan Kaiser hält im Unternehmen Vorträge und zeigt seinen Kolleginnen und Kollegen: Was heißt es, seinen Alltag mit einer Sehbehinderung zu bestreiten? Und welche Hilfsmittel gibt es im Arbeitsalltag? „Ich war erstaunt, dass ein so reges Interesse besteht. Und es freut mich natürlich, dass mein Arbeitgeber für mich immer die optimale Lösung gefunden hat.“ Inzwischen gestaltet der IT-Fachmann die Arbeitsplatzthemen aktiv mit. Und demnächst wird er für die Wahl der Schwerbehindertenvertrauenspersonen kandidieren, um das Team um Mirjam Nagl und Philipp Ellguth zu unterstützen.

Stefan Kaiser hat einen Leitspruch, den er vor Jahren gehört hat: Und ist der Berg auch noch so steil – a bisserl was geht allerweil. „Soll heißen: auch wenn es trotz Behinderung nicht so schnell geht wie bei anderen Menschen – macht nichts! Einfach weiter, wir kommen auch ans Ziel.“

Glossar

Augenlinse

Die Augenlinse befindet sich im Auge direkt hinter der Pupille. Sie ist durchsichtig und nach außen gewölbt. Durch die Wölbung wird Licht gebrochen und anschließend auf einen bestimmten Punkt auf der Netzhaut übertragen. So wird scharfes Sehen möglich. Die Linse ist verformbar, dadurch kann der Mensch unterschiedlich weit entfernte Dinge scharf erkennen.